Schattenseiten des Leistungssports: Über den Einfluss von Essstörungen

Wie ist Leistungssport mit einem gesunden Körper vereinbar? Antworten wurden bei einem Podiumsgespräch des Landesarbeitskreises Kirche und Sport und des Hospitalhofs Stuttgart  mit dem Thema „Sport und Körper(-Kult) – Spitzensport in Spannungsfeldern“ gesucht. Dabei wurde deutlich, welch unheilvolle Bedeutung Essstörungen – nach wie vor ein Tabuthema – gerade in Sportarten haben können, in denen ein reduziertes Körpergewicht erfolgversprechend erscheint. Auch vor dem Hintergrund der Selbstdarstellung in den Sozialen Medien. Ein spannender Austausch vor knapp 70 Zuhörern mit intensiven Einblicken.
Von Klaus Vestewig


Spitzensportler:innen unter sich. Das Podiumsgespräch mit Kim Bui (Bildmitte) und Chris Hanke (rechts) stieß auch bei Europameisterin Alina Reh auf großes Interesse.

Zwischen großer Faszination, Glücksgefühlen und totaler Belastung, ja Überforderung: Kaum jemand kennt die Belastungen nach 29 Jahren Leistungssport – zwischen ihrem vierten und 33. Lebensjahr- besser als Kim Bui. „Man lernt an Grenzen zu kommen, die man im normalen Leben selten erlebt. Leistungssport verlangt wahnsinnig viel von einem ab“, sagte die Frau, die viele Jahre lang zu den besten deutschen Turnerinnen gehört hat. Leistungssport sei total toll, aber man müsse sich bewusst sein, was dazu gehört. Von außen sei z. B. kaum zu ermessen, was es zu einer bestimmten Barrenübung von gerade mal 45 Sekunden brauche: „Da steckt jahrelanges Training dahinter.“ Davon hat sich die Studentin der technischen Biologie im August 2022 verabschiedet: „Weil ich nicht mehr bereit war, alles zu geben, um auf dem Niveau zu bleiben.“

Viele Gefahren, falsch abzubiegen

Was er am Leistungssport liebe, sei schon das tägliche Training, versicherte auf dem Podium derweil Christoph Hanke. Der Kletterathlet, in der Sportfördergruppe der Bundeswehr und im Bundes-Lehrteam des Deutschen Alpenvereins (DAV), bestreitet bereits seit 15 Jahren internationale Wettkämpfe. 2020 wurde er deutscher Meister im Lead. 2021, mitten in der Vorbereitung auf die WM in Moskau, zögerte er nicht lange mit einer Stammzellenspende.

„Ist der Körper das Mittel zum Zweck?“ wurde der 30-Jährige von Moderator Dr. Salomo Strauß vom Fachbereich Theologie und Ethik bei der Evangelischen Heimstiftung gefragt. Die Antwort des Olchingers: „Der Leistungssport birgt viele Gefahren, wo man falsch abbiegen kann. Als junger Athlet habe ich gedacht, ich trainiere so hart, dass ich eine Maschine werde, die alles kann. Nach zwei schweren Schulter-Operationen habe ich gemerkt, dass das falsch ist.“

Gerade gewichtsabhängige Sportarten, also Turnen oder Klettern, aber auch Skispringen, Eiskunstlauf, Rhythmische Sportgymnastik, Langstreckenlauf oder auch Sportarten, in denen es um Gewichtsklassen geht, bergen die Gefahr, dass ihre Akteure in die falsche Richtung abbiegen. So war es auch im Falle von Kim Bui gewesen: Sie geriet in den Teufelskreis von Bulimie. Die dreimalige Olympia-Teilnehmerin und zweimalige Bronzemedaillen-Gewinnerin bei Europameisterschaften machte im Februar 2023 ihre Essstörung öffentlich.

„Sich annehmen, wie man ist“

Ihre Trainerin hatte sie gemahnt, sie solle mal auf ihr Gewicht achten. Wohl mit dem Ziel, sich noch schneller und leichter drehen zu können. Obwohl sie danach weniger gegessen habe, habe sie nicht abgenommen – der Weg in die Ernährungsstörung. „Sechs, sieben Jahre habe ich ein Doppelleben geführt, das war eine graue Suppe“: So fällt ihr Blick zurück aus. Anfangs habe die Essstörung einen positiven Effekt gehabt, irgendwann aber sei bei der künstlichen Gewichtsreduzierung die Kehrtwende eingetreten. Vielen ist eben nicht bewusst, was sie ihrem Körper damit antun. „Man sollte sich annehmen, wie man ist, das ist das Beste“, resümiert die Bodenspezialistin.

Dann wurde ihr Versteckspiel an die Trainer herangetragen. „Ich bin froh, dass es rausgekommen ist“, sagt Kim Bui heute, „aber der Moment war echt schlimm. Ich habe mich schwergetan, dazu was zu sagen. Man streitet es zunächst auf jeden Fall ab.“ Ihre Eltern waren damals überfordert: „Man packt es eigentlich nur mit Hilfe von außen.“  In der Öffentlichkeit hat sie das Thema aber lange unter den Teppich gekehrt, weil sie sich, so die Turnerin, geschämt und Schuldgefühle gehabt habe. „Aber dann habe ich es überwunden. Das war für mich ein emotionaler Ballast, den ich abgeworfen haben.“ Ausschlaggebend dafür, ihre frühere Erkrankung in ihrer veröffentlichten Biografie „45 Sekunden“ zu thematisieren, war ein sehr berührendes Gespräch mit einer Bekannten, die ihr von ihrer Bulimie erzählt habe.

Dass Ernährungsstörungen auch in der Kletterszene Realität sind, weiß Chris Hanke nur zu gut. Um möglichst wenig Gewicht an der Wand in die Höhe hieven zu müssen, wird nicht selten nachgeholfen. „Es gibt Vorbilder von sehr erfolgreichen Sportlern im Klettern, aber es gibt auch sehr erfolgreiche Sportler, die keine Vorbilder sind, weil sie sich zum Erfolg hungern“, betont Hanke. In seiner frühen Karriere als Kletterprofi hatte er nur 57 Kilo gewogen. Da habe er festgestellt, dass es so nicht gehe und dass er auch so nicht weitermachen wolle. „Heute esse ich den Teller Nudeln noch.“ Er wiegt 65 Kilo und ist damit hochzufrieden – und leistungsfähig.

Wirbel in der Kletterszene

„Es starten Athleten, die ein ernstes Problem haben. Da ist es nur eine Frage der Zeit, dass es auch schlimm enden könnte“, sorgt sich Hanke. Im Sportkletter-Weltverband (IFSC) hatte RED-S, das sogenannte Relative Energie-Defizit-Syndrom im Sport, das durch Kalorienmangel verursacht wird – Folgen u. a. Magersucht, Osteoporose, mentale Probleme – bereits im Sommer 2023 für Wirbel gesorgt. Angesichts von mangel- und minderernährten Sportlern hatte der deutsche Teamarzt Volker Schöffl Alarm geschlagen und war aus Protest sogar aus der medizinischen Kommission des Verbands zurückgetreten.

Die folgende Reaktion des IFSC kommentierte Hanke so: „Ich find‘s traurig und ungenügend!“ Der Weltverband hatte nämlich verfügt, dass die nationalen Verbände die Gesundheitsdaten ihrer Athleten künftig detaillierter auflisten müssen. 80 Fragen müssen da beantwortet werden. Hanke versteht nicht, warum sich der Weltverband hingegen nicht auf den österreichischen Vorschlag eingelassen hat: dass Athleten, die bei BMI-Messungen des Körpergewichts unter eine gewisse Grenze fallen, bei internationalen Topereignissen nicht starten dürfen. Hankes Kritik: „Mir fehlt eine ganz klare Regelung. Man kann Weltklasseleuten, die Medaillen vor Augen haben, keinen Vorwurf machen. Aber der Weltverband hat eine Fürsorgefunktion. Es geht darum, den Athleten und seine Gesundheit zu schützen. Das muss der Verband tun, nicht der Athlet selbst.“

Auch im Routenbau an den Kletterwänden könne man sinnvolle Lösungen finden: „Bei kleinen Griffen tun sich leichtere Athleten leichter, bei Großgriffigen muss man mehr Muskelkraft mitbringen.“ Wenn man also den Routenbau verändere, so Hanke, könnte das eine Lösung des Gewichtsproblems sein.

Perfekt performen in sozialen Medien

Moderator Salomo Strauß thematisierte in der Gesprächsrunde sodann die Bedeutung von Social-media-Kanälen, auf die Spitzensportler bei der Vermarkung ja zunehmend angewiesen seien. Auch in diesem von oft fragwürdigen Einschätzungen von Influencerinnen und Influencern bestimmten Bereich geht es ja häufig um schlankes Aussehen, Ernährung, besondere Kleidung und Leistungsfähigkeit. „Social media ist Fluch und Segen zugleich. Jeder braucht ja eine Selbstvermarkungs-Plattform. Da muss man perfekt performen. Aber jeder muss selbst entscheiden, was er von sich zeigen will“, verdeutlicht Kim Bui. Sie habe immer eher Sportliches ausgewählt und nicht so sehr Privates. Aber es sei natürlich auch eine Chance, die Reichweite des Mediums für Themen wie Essenstörungen zu nützen. 

Freilich spielt in den sozialen Medien auch der Einfluss von externen Sponsoren eine wichtige Rolle, im Klettern gerade aus den Bereichen Schuhe, Seile, Kleidung oder Sicherungsmittel. Laut Hanke können von dieser Förderung in Deutschland aber nur etwa drei Kletterer leben. Mit einem Freund hat er selbst die Kamera in die Hand genommen und einen You-tube-Kanal gegründet. „Wichtig war uns, dass wir uns nicht verstellen und authentisch bleiben“, versichert Hanke. Dass das Kletterduo angesichts der großen Reichweite eine Vorbildfunktion in der Szene hat, ist den Beiden bewusst.

Schützendes Umfeld durch Eltern

Was Leistungssportler während ihrer Karriere zu stützen vermag, auch im Falle von Rückschlägen und Verletzungen, wollte Salomo Strauß, selbst Trainer in der Leichtathletik, am Schluss von den beiden Topathleten wissen. „Ich habe meine Eltern als Auffangstation empfunden. Rückblickend waren es schon ihre Worte“, sagte Chris Hanke. Kim Bui, die in Deutschland 16 Jahre lang Athletensprecherin war und demnächst in die internationale Athleten-Kommission im IOC aufrücken will, sieht es genauso: „Meine Eltern haben mich gestützt. Sie waren nie überehrgeizig und haben mich nie getrieben.“ Man brauche, so die Beiden unisono, ein absolut schützendes Umfeld, um Leistungssport ausüben zu können. Wichtig sei es freilich dabei auch, bei Problemen über den Tellerrand hinauszuschauen und interdisziplinären Austausch und Fachkompetenz zu suchen.


Diese Nachricht teilen:

Facebook
Twitter
WhatsApp
Email