Sie kommen aus Indien, den USA, aus Israel und Deutschland: 206 Jugendliche aus diesen vier Ländern hat der Verein SCORA, Schulen gegen Rassismus und Antisemitismus und für Diversität, in dieser Woche zum Sommercamp in Stuttgart versammelt. Das wichtigste Ziel in den kanpp 20 Workshops ist, die Völkerverständigung zu vertiefen. Wir haben 12 der 16- bis 18-Jährigen beim Kletter-Projekt von Kirche und Sport in Württemberg in der „Rockerei“ in Zuffenhausen begleitet. Mit bemerkenswerten Einblicken.
Von Klaus Vestewig
Sonntagabend, Landtagswahl im Fernsehen: Laut der Forschungsgruppe Wahlen haben in Thüringen 36 Prozent der 18- bis 29-Jährigen AfD gewählt, sogar noch 3 Prozent mehr als die Durchschnitts-Bevölkerung. Kaum zu glauben, dass sich dort so viele aus der jungen Generation für die Einengung des eigenen Spielraums, für Ausgrenzung und Abschottung entschieden haben.
Montagmorgen, Boulder- und Kletterhalle der DAV-Sektion Schwaben – welch wohltuender, hoffnungsvoller Kontrast! „Ich bin sehr happy, das ist mehr als ich erwartet habe“, sagt Shalev, 18 Jahre, aus Israel: „Ich habe hier wunderbare Leute aus anderen Ländern getroffen. Wir verbinden uns durch Gespräche und Musik.“
Johannes aus Heidelberg, politisch interessiert, wie er sagt, ergänzt: „Es ist spannend zu sehen, wie die anderen hier agieren. Wir haben viel über die indische Kultur gelernt.“ Am Vortag, so der 16-Jährige, hatten die Jugendlichen Videos mit Vorurteilen über andere Länder angeschaut und darüber diskutiert: „Wir haben darüber gesprochen, dass man andere Kulturen eben schnell in Schubladenfächer einordnet oder diskreditiert.“
Bouldern: Schwierigkeit auf kurzer Distanz
Jetzt sind kraftvolle Bewegungen in gemischten Kleingruppen an vier verschiedenen Bouldern gefragt. Nur drei oder vier der Jugendlichen sind schon einmal mit dem Klettern in Berührung gekommen. Kaum sind die Kletterschuhe ausgeteilt, auch die Finger sachkundig aufgewärmt, ein paar Verhaltensregeln in der Halle und beim Fallen geklärt, störende Ringe, Kettchen und Armbänder abgestreift sowie die Hosentaschen geleert, geht es auch schon in die geschraubten Routen unterschiedlicher Schwierigkeitsgrade.
4,5 m ist die Boulderwand maximal hoch. Eine Sicherung gibt es nicht, aber man wird ja im Falle des Falles von dem stark dämpfenden Mattenteppich aufgefangen. Beim Bouldern kommt es darauf an, sich mit drei, vier harten Moves mit der größten Schwierigkeit auf kurzer Distanz auseinanderzusetzen.
Akshita rutscht anfangs ein paarmal an den runden Plastikgriffen ab. Dank der Hinweise der Coaches und einer Schicht Kreide an den Händen schafft es die Inderin unter Anfeuerung und Beifall ihrer Gruppe aber schließlich doch noch viel höher hinauf in der Route. Die 17-Jährige strahlt. „Ihr habt mich so ermutigt. Ich möchte Euch allen für die Unterstützung danken“, wird sie am Mittag beim Resümee berichten. Sie habe schon einige neue Freunde gewonnen.
Nicht von ungefähr stellt Philipp Geißler das Kommunikative beim Bouldern heraus. „Das ist eine sprechende Sportart: Wir vertrauen uns und schaffen es – oder auch nicht. Da kann man ein Problem gemeinsam diskutieren und lösen“, weiß der Geschäftsführer von Kirche und Sport Württemberg, in Zuffenhausen einer der Coaches. Geißler muss es wissen: Er ist selbst begeisterter Boulderer mit einer Bestmarke von Fb 7a+. Für ihn bietet der SCORA-Kletter-Workshop durchaus Perspektiven zu noch weitreichenderen Zielen, z. B. mit Seilschaften zwischen Israelis und Palästinensern bei einem moderierten, begleiteten Kletterkurs – Hilfe bei der Gestaltung von Frieden und Demokratie.
Berührende Geschichten vom Krieg
Eigentlich wollten 140 Israelis nach Stuttgart kommen, aber das israelische Kultusministerium hatte vor dem Hintergrund des Nahostkonflikts den Schulen offenbar einen Riegel vorgeschoben. So sind es nur 20 geworden – immerhin. Sie erzählen berührende Geschichten. Zum Beispiel, dass sie die Angreifer der Hamas vor deren Massaker am 7. Oktober 2023 mit eigenen Augen gesehen haben. „Ich habe die Zerstörungen gesehen. Ich hatte so viel Adrenalin im Blut“, sagt Shalev. In seinem Nachbarort seien 100 Menschen getötet und 80 gekidnappt worden. Schockierend.
Hass auf arabische Israelis oder Moslems empfinde er aber keineswegs. In seiner Schule lebe er in einem Zimmer mit zwei jüdischen und zwei arabischen Jugendlichen: „Das sind meine besten Freunde, sie sind für mich wie Brüder.“ Deswegen bedauert es der 18-Jährige, dass arabische Israelis – zwei Millionen in Israel (20 Prozent der Bevölkerung) – nicht mit nach Stuttgart reisen wollten oder durften.
Inzwischen ist die Gruppe in die Kletterhalle gewechselt. Neue Herausforderung: Top-rope. Mit Seilsicherung möglichst bis an die obere Kante der 15 m hohen Wand klettern. Da hat Sicherheit die oberste Priorität. Deswegen sichern die Coaches die Youngsters am ersten Tag, in den Folgetagen lernen die unter Anleitung selbst, den verantwortungsvollen Job in der Seilschaft zu übernehmen, Vertrauen zu entwickeln. Fabian Ankele erklärt gründlich die Knoten und worauf es ankommt. „Die Höhe der Wand ist für die Teilnehmer schon ein Problem. Wir passen dann von außen auf, dass technisch alles passt“, erklärt der Klettertrainer von der Kletterkirche h3 in Metzingen, wo er Eltern-Kind-Kurse (7- 10-jährige Kids) leitet.
Auch Regina Ullrich, die Leiterin der Sportarbeit der Evangelischen Jugend Stuttgart und auch der Kletterhalle [cityrock], einst erstes Kletterdomizil in der Stadt, bringt viel Erfahrung mit. Drei Klettergruppen zwischen 10 und 18 Jahren, ein Familienkurs und eine 50+-Gruppe trauen sich dort in die Wände. „Da sind auch Mädels mit Kopftuch dabei. Mitunter sind Jungs, die vorher die große Klappe haben, ängstlicher“, versichert sie. Wenn sie hinterher herumfrage, wer mehr geschafft habe, als er oder sie vorher gedacht habe, blicke sie nicht selten in strahlende Gesichter.
Fasziniert von der 15 m hohen Wand
So ist es auch beim SCORA-Workshop, der vom der Jugend-DAV Württemberg und der DAV Sektion Schwaben praktisch und von der Schirmherrschaft durch Landtagspräsidentin Muhterem Aras und Stuttgarts Oberbürgermeister Frank Nopper ideell unterstützt wird. „An der Spitze bin ich schon ein bisschen über die Höhe erschrocken“, gibt Clara aus den USA zu, als sie wieder sicher zurück auf dem Hallenboden angelangt ist. Insgesamt seien die Kontakte mit den Jugendlichen aus den anderen Ländern sehr interessant. „Die sind super-nett. Und ich habe auch viel über Israel gelernt“, so die 17-Jährige.
Keine Mühe mit der Höhe der Route hat Aaditya. „Das war eine faszinierende neue Erfahrung“, bilanziert der 17-jährige Inder lächelnd seine geglückte Premiere. Auch Johannes hat Top-rope Spaß gemacht. „Wenn ich durch das Seil gesichert bin, fühle ich mich auch sicher“, merkt der Schüler aus Heidelberg an, der durch seinen Gemeinschaftskundelehrer von dem Sommercamp erfahren hatte. Kleine Drohnen haben einzelne Jugendliche bei ihrer Kletterei an der Zuffenhauser Wand begleitet. Die Erklärung: Der Videograph Gökhan Önol, der bereits einen bemerkenswerten Video-Clip beim 1. Interreligiösen Sportfest 2023 an der Sportschule Ruit produziert hatte, war wieder mit Eifer am Werk.
Wichtige Impulse gab den Teilnehmern in Zuffenhausen auch Sam Stidham mit auf den Weg. Für den vormaligen Wettkampfkletterer und Klettercoach ist es offensichtlich, dass man in den Routen einiges fürs Leben lernen kann: „Das war hart, aber ich versuche es zu machen.“ Man erfahre viel über sich selbst. Dazu sei es auch wichtig, aus der eigenen Komfortzone herauszutreten, gibt der Mann aus dem US-Staat Colorado zu bedenken.
Sein Credo formuliert Stidham eindrucksvoll so: „Wir klettern die Wand hoch – und zur gleichen Zeit reißen wir die Wand ein. Diese Bereitschaft, Wände einzureißen, brauchen wir.“ So bleibt, wenn die Jugendlichen von Stuttgart in ihre Länder heimreisen, in diesem Sinne die leise Hoffnung, dass sie nach den Erfahrungen im Sommercamp künftig wenigstens ein Stückchen dazu beitragen können, den krisenhaften Kurs der Welt zu verändern.