Die Angst als treuer Begleiter und Ratgeber

Die Angst ist in der Gesellschaft stigmatisiert: als lähmende Element. Der angemessene Umgang mit ihr kann aber auch zur mentalen Gesundheit führen – als geradezu existentielles Lebenselixier. Das wurde beim Vortrags- und Diskussions-Abend mit dem Extrem-Alpinisten Alexander Huber und dem Bewegungstherapeuten Ulrich Dautel im Hospitalhof Stuttgart deutlich. Eine Annäherung aus zwei verschiedenen Blickwinkeln. Von Klaus Vestewig

Alexander Huber zählt mit seinem zwei Jahre älteren Bruder Thomas mit Sicherheit zu den weltbesten Allroundbergsteigern. Der 54-Jährige hat in seiner bisherigen Karriere in allen Erdteilen eine Vielzahl von Erstbegehungen in den höchsten Schwierigkeiten gemeistert. Nicht immer gesichert durch ein Seil: Der Traunsteiner, der sich nach seinem Diplom als Physiker 1995 zu einer Laufbahn als Alpinprofi entschied, hat auch durch abenteuerliche Routen im Free-solo-Stil für internationale Schlagzeilen gesorgt. Zum Beispiel bei der Direttissima durch die Nordwand der Großen Zinne im Schwierigkeitsgrad VIII+

Free solo sind Besteigungen ohne Seil, ohne Klettergurt, ohne Sicherung im senkrechten Fels, nichts, was einen Absturz verhindern würde. „Das ist Klettern in seiner reinen Form, die direkte Auseinandersetzung, aber kein Kampf, zwischen Mensch und Berg“, lautet das Credo des Oberbayern. Die Konsequenz: „Der Einsatz ist maximal: nicht weniger als das eigene Leben.“ Zwangläufig die Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod, denn selbst der geringste Fehler in den lotrechten Felswänden bedeutet den unausweichlichen Sturz in den sicheren Tod.

Ein Mann, der sich an solch wahnwitzig scheinende Touren traut, kann keine Angst kennen, sollte man meinen. Das Gegenteil ist der Fall. „Ich bin kein angstbefreiter Mensch, sondern von Angst geleitet. Die Angst sichert mein Überleben“, sagte Huber vor 350 Zuhörern im vollbesetzten Saal bei der gemeinsamen Vortrags- und Diskussions-Veranstaltung „Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen“ des Hospitalhofs Stuttgart und des Landesarbeitskreises Kirche und Sport.

Angststörung überwunden

Kaum zu glauben: Der staatlich geprüfte Berg- und Skiführer hat sogar eine lähmende Angststörung überwunden – dank therapeutischer Hilfe. „Meine Genesungszeit dauerte zehn Jahre. Ich habe lange gebraucht, bis ich darüber schreiben konnte“, räumt Huber freimütig ein. 2021 erschien sein Buch mit dem vielsagenden Titel: „Die Angst, dein bester Freund“.

Klettern und die Bedeutung von Angst spielen auch bei der Arbeit von Ulrich Dautel eine ganz zentrale  Rolle. Freilich in einem ganz anderen Bereich:  Der Bewegungstherapeut, Sportwissenschaftler und Sportbiologe betreut in Zwiefalten psychiatrische, darunter stark traumatisierte Menschen, auch Straftäter im Maßregelvollzug. „Ich gehe mit den Leuten an unsere 11 m hohe Kletterwand, da können Sie im geschützten, gesicherten Rahmen einen besseren Umgang mit der Angst lernen“ sagte Dautel  zum Diskussionsthema „Vertrauen, Angst und mentale Stärke am Berg – und in den Steilwänden des Lebens“.

Gewinn von Sicherheit und Vertrauen

Dautel kann auf eine jahrzehntelange Berufserfahrung zurückschauen. Die Angst lauere bei seinen Patienten immer im Hintergrund: „Wird sie zu groß, greifen sie auch zu Suchtstoffen.“ Durch die Sicherung am Seil kann an der Kletterwand ja nichts passieren – die Patienten gewinnen Sicherheit und Vertrauen, auch abseits der Kletterei. „Auch in der Gesellschaft muss man sich ja Free solo bewegen“, verdeutlicht Dautel. Angst könne da etwas Zerstörerisches sein: „Gesunde Menschen haben einen guten Umgang mit der Angst, sie können die Balance halten. Wenn das verrutscht, wird man psychisch krank, schlimmstenfalls depressiv.“

Auch Huber, mit seinem Bruder in der Initiative „Seilschaft Inklusion“ engagiert und überdies Schirmherr der „Angst-Hilfe“, hat ähnliche Erfahrungen mit Menschen mit und ohne Handicap gemacht: „Beim Klettern sind sie gefordert, sie spüren sich, die Angst, das Vertrauen.“ Auch für sich selbst streicht Huber die positive Rolle der Angst in seinem Leben und vor allem beim Bergsteigen heraus. Angst sei ein natürliches Warnsignal, das uns auf bestehende Gefahren aufmerksam macht. „Angst soll uns nicht lähmen, sondern dazu veranlassen, dass wir der Gefahr ins Auge sehen.“

Sackgasse für Hasardeure

Wer im Leben keine Angst habe, erkenne die Gefahr nicht und werde früher oder später scheitern. „Hasardeure kommen nicht besonders weit“, merkt der Kletterkünstler an. Insofern könne das lähmende Gefühl der Angst auch eine positive Emotion sein. Es brauche allerdings viel Mut, Angst zu zeigen, „das ist oft schambesetzt“, gab Moderatorin Anja Wilser vom Stuttgarter Institut für systemische Beratung, Therapie, Supervision und systematisches Coaching mit Recht zu bedenken.

Wie aber die Angst kontrollieren? „Ich muss, auch durch eine gute Vorbereitung, das Selbstvertrauen haben, dass ich die Schwierigkeit bestehen kann. Aus tiefstem Herzen muss ich überzeugt sein, dass ich das dominieren kann“, betont Alexander Huber. Gerade den „point of no return“, also jene Stelle in einer Felswand, hinter der klettertechnisch keine Rückkehr mehr möglich ist, dürfe man nicht immer überschreiten: „Wenn die Angst dir sagt: Das ist heute nicht gut für dich, und dein Bauch grummelt, muss man sich vor einem weiteren Schritt zurückziehen.“

Ein Stück Heilung

Über den positiven Effekt, die Angst beim Klettern gespürt, aber in einer guten Balance gehalten zu haben, sind sich Huber und Dautel einig. Das sei ein Stück Heilung, sagte der Sporttherapeut kürzlich in einem Interview mit Philipp Geißler, dem Sportbeauftragten der Evangelischen Landeskirche in Württemberg, auf Youtube: „Das ist fast immer eine riesengroße Freude an der Kletterwand, ein großer Stolz, dass man es geschafft hat. Einer der Teilnehmer hat mir gesagt: ,Ich konnte loslassen und vertrauen.‘“ Welch Gewinn!

Dass solche Erfolgserlebnisse bei depressiven Patienten ähnlich euphorisch empfunden werden können wie z. B. bei den Huberbuam nach deren geglücktem Speedrekord 2007 an der „Nose“ am El Capitan im Yosemite-Valley, weiß auch Alexander. Selbst sehr gute Bergsteiger benötigen für diese berühmt-berüchtigte Tour drei bis vier Tage.

Nachdem den Huberbuam zunächst ein Rekordversuch missglückt war, bei dem Thomas 25 m tief ins Seil stürzte und sich dabei schwere Prellungen zugezogen hatte, hatten beide nicht aufgegeben. Hochmotiviert waren sie ins kalifornische Kletter-Dorado zurückgekehrt. Die Folge: Sie rasten die 1000 m hohe, glatte Granitwand in sagenhaften 2:45:45 Stunden hoch – Speedrekord – und lagen sich oben in den Armen. „Die Anspannung war von der einen zur anderen Sekunde vorbei.“ Am Ende eines geglückten Themenabends im Hospitalhof gab es für alle Beteiligten reichlich Beifall vom Publikum.

Alexander Huber: „Nicht warten, bis die Hütte lichterloh brennt

Bei der Diskussionsveranstaltung zu „Vertrauen, Angst und mentaler Stärke am Berg – und in den Steilwänden des Lebens“ im Hospitalhof Stuttgart hat Alexander Huber ein deutliches Plädoyer dafür gehalten, sich bei Angststörungen frühzeitig um therapeutische Hilfe zu bemühen. Auch wenn Deutschland hierbei schlecht aufgestellt sei, habe er selbst bei seiner Angststörung vor einigen Jahren einen guten Therapeuten gefunden.

„Ich habe in meinem Leben gelernt: Probleme lange Zeit mitzunehmen, das höhlt einen aus. Man muss seine seelische Mitte erfühlen, und wenn da ein Unruheherd ist, sollte man den nicht lange mit sich herumtragen“, sagte der Ausnahmekletterer. Die Hilfe bei seiner Disbalance habe in seinem Falle lange gedauert. Aber es habe keinen Sinn, davonzulaufen, die Gefahr hole einen ein.

Den 350 Zuhörern im vollbesetzten Saal gab Alexander Huber folgenden Rat bei Angstproblemen: „Macht Euch auf den Weg, wenn die Hütte zu brennen beginnt, und nicht erst, wenn sie schon lichterloh brennt.“ Dann nämlich sei man auch später im Falle einer Wellenbewegung stabil genug zu wissen, dass man es auch weiterhin schaffe. Immer mehr Menschen, so meint er, benötigten Hilfe. „Unsere Form des Zusammenlebens ist eine Herausforderung für unser Seelenheil. Viele Leute haben ein Problem damit. Man muss nicht immer jedermanns Darling sein. Wir sollten ein Stückweit langsamer und geerdeter werden.“ Dabei könne auch die Kirche helfen.

Zum Thema Free-solo-Unternehmungen (schwierige Wanddurchsteigungen ohne jegliche Sicherung)  wurde er gefragt: „Sie haben drei Kinder, Free solo machen Sie doch hoffentlich jetzt nicht mehr?“ Die Antwort und ein Lächeln: „Das kommt darauf an. Im Straßenverkehr ist es auch gefährlich.“ Nicht nur mit der eigenen, sondern auch mit der Angst der eigenen Familie umzugehen, wenn die sich bei den gefährlichen Touren Sorgen um seine Sicherheit macht, daran hat er sich gewöhnt. „Meine Frau hat mich so kennengelernt. Ich bin seit 15 Jahren mit ihr zusammen“, erzählte er dem Publikum. Seine Frau Kristina frage schon, ob er sich eine Tour genau überlegt habe. „Sie hat eine erstaunliche Kompetenz. Sie ist für mich Beraterin, sie kann das beurteilen.“

Ulrich Dautel: „Das Aggressionspotential geht runter“

Über Bewegung die Heilung seiner Patienten anzugehen, das gehört für den Sporttherapeuten, Sportwissenschaftler und Sportbiologen Ulrich Dautel zum Arbeitsalltag in Zwiefalten. Einheiten an der Kletterwand oder beim Kajakfahren – Dautel ist auch ausgebildeter Kajaklehrer – gehören dazu. Die Auseinandersetzung mit der Angst spielt dabei eine wichtige Rolle: „Die Leute fragen sich: Hält das Seil, hält der mich, halten die Griffe, kann ich auf meine Hände vertrauen, kann ich mich auf die  Füße verlassen.“  Was Dautel nach den Kletterstunden bei seinen psychiatrischen Patienten festgestellt hat: „Ihr Aggressionspotential geht runter, ihr Wohlbefinden steigt, sie können besser schlafen.“ Vor allem das Klettern in der Gruppe sei sehr heilsam.

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