Willkommenskultur als Hilfe beim Einstieg in den Sport

Dass auch jeder Mensch mit geistiger Behinderung das Recht und die Chance haben sollte, Sport zu treiben, dürfte niemand in Frage stellen. Auch Sport treiben zusammen mit Nichtbehinderten. Wie aber kann inklusiver Sport zwischen Menschen mit und ohne Handicap gut gelingen? Welche Schwierigkeiten sind da mitunter zu überwinden? Und wo finden sich Angebote dazu? Von Klaus Vestewig

Antworten auf diese Fragen suchte der Gesprächsabend „Sport für ALLE“ mit Vorstellung vielfältiger Aktivitäten, zu dem der Landesarbeitskreis Kirche und Sport, die Lebenshilfe Baden-Württemberg, der Württembergische Landessportbund (WLSB), Special Olympics Baden-Württemberg und der gastgebende Hospitalhof Stuttgart geladen hatten. Rund 100 Besucher durften am Vorabend des „Europäischen Protesttags zur Gleichstellung“ am 5. Mai feststellen, dass in der Region Stuttgart erfreulicherweise bereits etliche ambitionierte Angebote realisiert worden sind.

„Ich fühle mich akzeptiert, und ich fühle mich wohl“, sagt Reka und lächelt: „Mit Freundinnen hier Sport zu machen, ist schön. Wir sind ein gutes Team.“ Mit einer ebenfalls behinderten Leichtathletin und zwei Mädchen ohne Einschränkung startet sie in der 4×100-m-Staffel innerhalb des 46Plus Down-Syndrom Stuttgart. „Wir machen bei den Special Olympics mit. Wir haben schon sechs Staffeln beisammen“, ergänzt Rekas Staffelkollegin Nora stolz. Bei den Special Olympics, der weltweit größten Sportbewegung für Menschen mit geistiger Behinderung, tritt ihre Staffel im Unified-Wettbewerb an – also gegen Konkurrenten mit der gleichen Anzahl von behinderten und nichtbehinderten Athleten.

Nina und ihre rund 20 Mitstreiter – davon etwa 12 mit Einschränkungen  – hingegen bewegen sich beim Eichenkreuz Stuttgart nicht auf der Laufbahn, sondern in der Senkrechten einer 12 m hohen Kletterwand in der Stuttgarter Kletterhalle „Cityrock“. Seit vier Jahren ist die junge Kletterin jetzt dabei. Die Schwierigkeiten 5+ bis 6+ beherrscht sie bereits. „An der 7- probiere ich mich.“ Auch sie sieht sich in der Gruppe voll akzeptiert. Klettern könne eigentlich jeder, Leistung spiele da keine Rolle. „Jeder macht das, was er kann. Auslachen geht nicht. Es gibt beim Klettern keine Verlierer“: So beschreibt Nina ihre Überzeugung. Auch auf einen sogenannten „Schutzengel“ wird in der Gruppe Wert gelegt: Das ist eine Kollegin oder ein Kollege, die oder der bei der Seilsicherung noch zusätzlich aufpasst, dass wirklich nichts passieren kann.

Moderatorin Mandy Pierer mit ihren Gästen

Dass Sport zwischen Menschen mit und ohne Beschränkung bereits in etlichen vielversprechenden Projekten läuft, weiß auch Dr. Volker Anneken. In den letzten fünf Jahren sei sehr viel passiert. Sportbünde und Einrichtungen hätten sich viel damit auseinandergesetzt und sensibilisiert, so der Sportwissenschaftler und Sonderschulpädagoge. „Jeder der möchte, soll auch ein gutes Angebot erhalten: Es müssen davon genügend da sein, damit auch eine Wahlfreiheit besteht.“ Ein klarer Ansprechpartner im Verein sei da sehr wichtig, ebenfalls ein Netzwerk, in das sich auch Kommunen aktiv einbringen. Beharrlichkeit ist gefragt: „Man muss ständig dranbleiben und sich die Zeit nehmen.“ Eine ganz wichtige Voraussetzung sei eine Willkommenskultur in den Vereinen. Eine Ablehnung dort resultiert nach Worten des Wissenschaftlers nicht selten einfach aus der Unsicherheit gegenüber Behinderten.

Den sportlichen Einstieg ins ganz normale Leben: Das haben die geistig behinderten Fußballer bei der SG Weinstadt bereits geschafft. Sie wollten nicht länger nur innerhalb von Menschen mit Handicap dem Ball nachjagen, sondern mit dem gleichen Anteil von Behinderten und nicht Behinderten. „Der große Wunsch der Spieler war, Mitglied in einem Verein zu sein, sie wollten sich ins Vereinsleben einbringen und z. B. auch mal der ersten Mannschaft beim Grillen helfen“, berichtete Sebastian Müller, Mitarbeiter in Weinstadt. Nach vielen Gesprächen durften seine Kicker schließlich mit großer Freude die Vereinstrikots der SG Weinstadt entgegennehmen. Müllers positives Resümee: „Jetzt können wir normal spielen: auf einem großen Trainingsgelände und nicht mehr in einer kleinen, popeligen Sporthalle. Und wir haben keine Randzeiten mehr fürs Training.“

Nicht überall entwickelt sich eine solche Erfolgsgeschichte. „Viele würden gern Sport treiben. Aber in einen Verein zu kommen, ist auf dem Land schwieriger als in der Stadt. Da gibt es mitunter große Barrieren, auch weil viele Behinderte Assistenz und Führung benötigen“, gab Michael Lofink im Gespräch mit Moderatorin Mandy Pierer, Inklusionsmanagerin beim MTV Stuttgart, zu bedenken. Der Radfahrer vom TV Mosbach ist Athletensprecher bei Special Olympics, das Menschen mit mehrfacher Behinderung Aktivitäten in 25 Sommersportarten und vielen Wintersportarten ermöglicht. Für Special Olympics steht in diesem Jahr übrigens ein großer Höhepunkt bevor: die World Games, die weltweit größte inklusive Sportveranstaltung vom 17. bis 25. Juni in Berlin.

Viel viel kleiner hat im August 2022 eine Initiative begonnen, die der Marbacher Ruderverein Menschen mit psychischer Erkrankung anbietet. Einmal im Monat von April bis Dezember erlernen hier bis zu acht psychisch Kranke das Rudern im breiten Gig-Boot: in einem Doppelvierer mit dem Trainer als Steuermann. „Das ist kognitives Training in einer sehr komplexen Sportart. Weil man in einem Boot sitzt, muss man sich auch auf Menschen einlassen“: So umreißt Frank Müller, lizenzierter Trainer und hauptberuflich Mitarbeiter des Psychosozialen Netzwerks Ludwigsburg, die Anforderungen an die Teilnehmer. Müller zeigte sich überrascht, wie schnell sich die Leute für das Projekt begeistert haben. Für Heike Breitenbücher, die Präsidentin des Landesruderverbands Baden-Württemberg, ist es gar das „Pilotprojekt mit psychisch Kranken in Deutschland“.

80 bis 100 geistig behinderte Menschen finden beim MTV Stuttgart 1843 in Stuttgart ihr sportliches Zuhause: beim Blindenfußball, beim Rollstuhl-Basketball und bei unterschiedlichen Spielen im Kinder- und Jugend-Rollsport. Beim Wheel-Soccer z. B., auch bekannt als Riesenball, Rollball oder Rollstuhl-Fußball, spielen zwei Teams mit behinderten und nichtbehinderten Kindern und Jugendlichen gegeneinander. Das Spiel ist nicht zu schnell, und die Regeln sind unkompliziert. Im Gegensatz zu anderen Mannschaftssportarten, so der Verein am Kräherwald, kann es von fast jedem mit Rollstuhl gespielt werden. Was eine große Vielfalt auf dem Spielfeld ermögliche.

Der VfB Stuttgart hingegen hat auch seine behinderten Fans in den Blickpunkt genommen: mit inklusiven Stammtischen und mit Besuchen vor Heimspielen auf dem Wasen, z. B. beim Frühlingsfest. Die soziale Arbeit für Fans sei dem Großverein sehr wichtig. Dabei spielen inklusive Fahrten zu Auswärtsspielen in der Fußball-Bundesliga eine bedeutende Rolle, z. B. nach Mainz, wo nach Angaben des Vereins zwei Reisebusse voll besetzt hinrollten. „Das funktioniert gut, und preislich ist das auch attraktiv für die Fans.“ Wegen der Hemmschwelle und der Angst mancher Behinderter werden vom VfB aber nur Auswärtsfahrten bis zu zwei oder drei Stunden maximal organisiert.

Bei der Caritas Stuttgart fördert die Bildungs- und Begegnungsstätte „Treffpunkt“ die Inklusion von Menschen mit geistiger Behinderung im Sport. Sie arbeitet mit Sportvereinen, Special Olympics und weiteren Partnern zusammen. In der Kanu-Gesellschaft Stuttgart kann man im Training den Kanusport in seiner ganzen Vielfalt erlernen. Im Turnverein Cannstatt 1846 trainieren zwei Fußball-Mannschaften, außerdem wird ein „inklusiver Walkingkurs“ und ein „Fit und gesund-Kurs“ angeboten. Beim TV 89 Zuffenhausen wurde 2009 das Unified Basketballteam gegründet. In der Tischtennis-Abteilung starten seit 2016 einige geistig behinderte Spielerinnen und Spieler in der offiziellen Liga. Auch ein inklusiver Lauftreff und Kegeln gehören zum großen Spektrum. „Wir haben eine große Offenheit der Vereine in der Region Stuttgart. Das ist sehr vielfältig. Leider haben wir aber nicht genug behinderte Sportler, die teilnehmen“, klagt allerdings Doris Kretzschmar vom „Treffpunkt“.

Und in der Tat hat Sportwissenschaftler Anneken bei seinen Studien festgestellt, dass Menschen mit Behinderung ein Fünftel weniger Sport treiben als der Durchschnitt bei Nichtbehinderten. Für Alexander Fangmann, den Sport-Inklusionsmanager des Württembergischen Landessportbundes, der auch bei den „Einfach-Machern“ aktiv ist, liegen die Gründe dafür auf der Hand: weil sich Behinderte den Sport im Verein nicht zutrauen, weil die Angebote nicht vielfältig genug sind und weil es für sie vielleicht schwierig ist, das finanziell zu realisieren. Das größte Problem aber dürfte für Behinderte ihre fehlende Mobilität darstellen: Wie können sie überhaupt hinkommen zum Sportangebot?

Für Fangmann sind die Erfahrungen für geistig Behinderte im Sport gemischt. „Es ist schwierig, die Angebote nachhaltig zu etablieren. Und es gibt natürlich auch negative Erfahrungen mit Vereinen, die nicht so aufgeschlossen sind“, weiß er, fügt aber hinzu: „Der Sport ist zur Umsetzung von Inklusion gut geeignet. Viele Vereine haben sich für das Problem sensibilisiert.“

Diese Nachricht teilen:

Facebook
Twitter
WhatsApp
Email