Der Ton wird schärfer, das gegenseitige Misstrauen wächst: Vielfach ist zu beobachten, dass das gesellschaftliche Miteinander gefährdet ist. Was können Kirche und Sport dazu beitragen, diesen beunruhigenden Trend aufzuhalten? Und: Wie können Spiele wie z. B. „Mensch-ärgere-dich-nicht“ beitragen – ein ganz ungewöhnlicher wissenschaftlicher Ansatz –, das gegenseitige Verständnis zu verbessern? Mit diesen Fragestellungen beschäftigten sich auf Initiative des Landesarbeitskreises Kirche und Sport ein bemerkenswerter Vortrag des Berliner Spielforschers Prof. Jens Junge sowie hernach ein kompetentes Diskussionspodium im Stuttgarter Hospitalhof. Von Klaus Vestewig; Fotos: Philipp Geißler


In seinem Grußwort sprach Volker Schebesta vom Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg von einer Zeit der zunehmenden Polarisierung und der Notwendigkeit für Orte des Austausches und Miteinanders. „In Kirche und Sport werden dazu unverzichtbare Spielregeln vermittelt“, so der Staatssekretär vor knapp 100 Zuhörern.
In diesen Tenor stimmte Bischof Klaus Krämer von der Diözese Rottenburg-Stuttgart seinerseits in seinem Grußwort ein: „Wir sind alle auf der Suche nach Wegen nach Gemeinschaft, die trägt. Gerade der Sport zeigt, was möglich ist auf Grundlage gemeinsamer Regeln. Die Kirche hat lange die Wirkung von Sport unterschätzt.“ Der Sport sei kein Nebenschauplatz, sondern ein Trainingsfeld für unsere Gesellschaft. Es sei aber auch so, dass Spitzensportler auch seelische und geistliche Begleitung bräuchten. Gemeinsame Wurzel für Sport und Kirche ist, so der Bischof: „Glaube und Bewegung kommen aus der Freude am Leben.“ Hinsichtlich der sexuellen Missbrauchsfälle in Kirche und Sport strich Krämer die gemeinsame Präventionsschulung heraus, die 2026 anlaufe: „Vertrauen braucht Schutz.“
In seinem halbstündigen Vortrag mit dem Titel „Spielregeln fürs Miteinander – Kirche und Sport als Player im gesellschaftlichen Mittelfeld“ beschritt dann Prof. Jens Junge, Direktor des Berliner Instituts für Ludologie, ein überraschendes, wenig bekanntes Feld. Ludologie, da musste so mancher erstmal googeln, kein Wunder: Was soll denn das sein? Die Antwort: Es geht bei dieser Forschungsdisziplin um das menschliche Grundphänomen des Spielens, einem Kulturgut.
„Spielen macht glücklich, gesund und schlau“
Junge verdeutlichte zunächst die Historie von Spielen. Das erste Spielzeug habe es bereits in der Eiszeit vor 40 000 Jahren gegeben: ein aus einem Mammutstoßzahn geschnitztes Fabelwesen. Die ersten Brettspiele datierten von 2600 v. Chr. „Spielen ist Dialog mit der Welt. Spielen ist ein abstraktes Abbild von dem, was wir erklären. Es macht glücklich, gesund und schlau, weil wir die Welt begreifen, in dem wir beim Spiel andere Menschen kennenlernen“, führte der Professor aus.
Es sei ein intensiver und langer Lernprozess bis man dazu komme, beim Gegenüber zu erkennen, dass dieser Mensch auch Gefühle habe. Das erfordere Empathie: „Wir müssen uns dabei an Regeln halten, weil wir im Spiel kooperativ miteinander auskommen müssen“, so der Wissenschaftler. Und: „Spielen hilft, optimistisch mit den Herausforderungen des realen Lebens umzugehen.“ Wege zu demokratischen Prozessen.
Brettspiele oder Memories seien gerade für Kinder ein ideales Feld, ein Selbstbild von sich aufzubauen: dass sie nämlich erkennen, aus eigener Kraft in der Lage zu sein, gegen einen Erwachsenen gewinnen zu können. Auf der anderen Seite sei das Spiel eine Gelegenheit, etwas in einem offenen, konsequenzfreien Raum zu tun: so zu tun als ob. Veränderungen machten manchen Angst, manche aber hätten auch Spaß daran. Was macht Spielen mit uns? Junge hat dafür ein sperriges Wortungetüm parat: Überforderungsbewältigungskompetenzvermittlung.


Werte vermitteln als DNA
Souverän führte hernach die ZDF-Sportreporterin mit Schwerpunkt Fußball, Claudia Neumann, durch eine interessante Diskussionsrunde mit vielfältigen Themen. Was steht für den Sport im Vordergrund, um Menschen zu verbinden? Anne Köhler, Vizepräsidentin Sportentwicklung im Württembergischen Landessportbund (WLSB) und Geschäftsführerin des Großvereins VfL Sindelfingen, beschrieb es so: „In Sport und Kirche Werte zu vermitteln, das ist unsere DNA. Im Mittelpunkt steht Begegnung und Gemeinschaft.“ In Sindelfingen selbst liege der Anteil von Menschen mit Migrationsgeschichte bei 60 Prozent, es spiegele sich auch im Sportverein wider. Das laufe nicht immer konfliktfrei ab, nehme insgesamt aber eine positive Entwicklung. „Demokratie pur“, wie Anne Köhler versicherte. Von den Regeln, die man da gelernt habe, könne man ein ganzes Leben profitieren.
Thorsten Latzel, Sportbeauftragter der EKD und Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, ergänzte: „Wir sprechen von Migranten oft nur im Problem-Modus. Wir brauchen Menschen, die Beispiel geben, wir brauchen Vorbilder.“ Der Sport, so Latzel, habe insgesamt unwahrscheinliches Potential: „In der Kirche haben wir drüber weggesehen. Wir müssen aber lernen, diesen Dialog miteinander zu führen.“ Sport, Spiel und Religion könnten bei der Sinnstiftung einen Beitrag leisten. Im übrigen sei aber eines schließlich klar, betonte Latzel: „Ganz viele Dinge liegen nicht in meiner Hand.“
Ertragen, dass die Welt komplex ist
Auch Spielforscher Jens Junge plädierte für neue Denkanstöße. Man müsse ertragen können, dass die Welt komplex sei – in diesem Sinne: Ach so, es könnte ja auch ganz anders sein. Das erfordere, sich selbst in Frage zu stellen. „Plötzlich wird Anderssein möglich“, ermutigte Junge.
„Was hast Du rausgezogen aus dem Sport?“, fragte Claudia Neumann die Leichtathletin Bera Wierhake. „Konfliktfähigkeit. Ich lerne viel im Sport auch für mein übriges Leben – aus Niederlagen wie aus Siegen“, antwortete die Transplantierten-Sportlerin. Auch für sie als Einzelsportlerin sei die Begegnung mit Teammitgliedern sehr wichtig. „Es gibt ja auch den Staffellauf. Am Ende gewinnt man als Team, da hat man eine ganz andere Freude, als wenn man selbst die Medaille in der Hand hält.“
Die 25-Jährige bekam im Alter von neun Monaten in höchster Not eine Spenderleber transplantiert. Mit 14 erfuhr sie von Meisterschaften im Transplantierten-Sport, den sie inzwischen als Botschafterin vertritt. Durch die Bindung an ärztliche Betreuung und die ständige Einnahme von Medikamenten sei die Leistungsfähigkeit von Transplantierten-Sportlern eingeschränkt, gab sie zu bedenken. Die Folge: „Man kann sich so nicht selber auf seinen Körper verlassen. Aber durch den Sport habe ich gelernt, Selbstvertrauen zum eigenen Körper aufzubauen. Das Leben ist nach der Transplantation ja nicht vorbei“, so Bera Wierhakes berührende Einsicht. In der Tat: Inzwischen ist die Mittelstrecklerin achtfache Weltmeisterin und vierfache Europameisterin auf den Distanzen 400, 800, 1500 und 5000 m.
Zur Frage Claudia Neumanns, für was der Sport vorbildlich sein könne, sagte Anne Köhler: „Der Sport hat sehr viel Potential, Minderheiten wie Migranten oder Behinderte zu integrieren.“ Es bestehe aber noch viel Luft nach oben. WLSB-Präsident Andreas Felchle habe kürzlich gesagt, die Sportvereine seien zwar offen für alle, aber de facto oft noch eine „weiße Mittelstandsvereinigung“. Im übrigen schlägen, so Anne Köhler, zwei Herzen in ihrer Brust, weil die Wettkampforientierung in den Vereinen eher rückläufig sei. Ihre Konsequenz: „Wir müssen Spiel und Bewegungsformate bieten.“



42 Prozent Zufall im Fußball?
Eine kleine amüsante Debatte löste noch Jens Junge aus mit seinem Statement zum Fußball: „Da stecken 42 Prozent Zufall drin. Unvorhergesehenes spielt im Fußball eine große Rolle, sonst wäre das Zuschauen doch total langweilig.“ Claudia Neumann wollte bei dieser hohen Prozentzahl des Zufalls nicht ganz mitgehen. Ihr Vorschlag: „Können wir sagen: äußere Einflüsse?“
In einem kleinen Beispiel wurde bei der Podiumsdiskussion deutlich, was Vertrauen und gegenseitige Unterstützung bewirken können. Ihre Trainerin bei der TSG Öhringen hat die damals 14-jährige Bera Wierhake nach eigenen Worten so begrüßt: „Hallo, ich bin die Bera – und ich will zu den Weltmeisterschaften.“ Ohne bis dahin vorzeigbare Ergebnisse der jungen Athletin hat ihre Trainerin ihr vor elf Jahren tatsächlich die Chance eröffnet, diesen geplanten ambitionierten Weg einzuschlagen. Auch eine Spielregel fürs Miteinander.
Am Ende einer bereichernden Veranstaltung bedankte sich Ulrike Kammerer, Studienleiterin am Hospitalhof, bei der „illustren Runde“, ehe es Landesbischof Ernst-Wilhelm Gohl (ELKW) vorbehalten blieb, den Abendsegen zu sprechen. Bei allem sportlichen Ehrgeiz des Menschen sollten Tatsachen im Bewusstsein bleiben: dass nämlich der Adler stets vorausfliege, die Löwin schneller sei und die Bärin mehr Kraft habe, auch dass die Gazelle leichtfüßiger und ausdauernder laufe. Der Ratschlag des Landesbischofs: „Seid demütig im Sieg, zuversichtlich in der Niederlage.“



